Der Junge im Bus
von Susanne van Lohuizen
Richard hat zum 12.Geburtstag von seiner Mutter einen Autobus geschenkt bekommen. Seither lebt er in diesem Bus. Manchmal lädt er Kinder zu sich ein und nimmt sie mit auf seine abenteuerliche Reise…
Premiere: September 1989 in einem Postbus, Feldkirch
Österreich Tournee: Sept.-Nov.1989 (100 Vorstellungen!)
Regie: Walter Hiller
Es spielen: Dietmar Nigsch, Katrin Bene, Christine Aichberger
Kostüme: Lies Bielowski
Pressestimmen
Ein gelungener Versuch
Charlie Weber
NEUE Vlb Tageszeitung, 04.09.1989
„Kommt mal mit, ich muß euch eine Geschichte erzählen.“ So beginnt ein Theatererlebnis der ganz besonderen Art. Die Zuschauer, in blau-weißen Matrosenjäckchen als Kinder verkleidet, begleiten den zwölfjährigen Wichard in seinen Bus. St. Gerold war die erste Station des Projekttheaters, das mit dem Stück ,, Der Junge im Bus“ die österreichische Erstaufführung auf vier Rädern feiert. Ein mehr als gelungener Versuch!
Ein umgebauter Postbus ist Schauplatz einer außergewöhnlichen Aufführung. Außergewöhnlich in mehrerer Hinsicht: Da ist zunächst das Stück selbst. Die holländische Autorin Suzanne van Lohuizen schrieb ,,Der Junge im Bus“ für Menschen ab zehn Jahren, Theater für Kinder und Erwachsene also. Wobei das Kindliche, Naive die äußere Darstellungsform prägt, so wie die Matrosenjacken, die aus den erwachsenen Zuschauern Kinder machen. Unter dieser Oberfläche verbirgt sich ein zu tiefst menschliches Schicksal, für das die Welt des Kindes den Deckmantel liefert: Die Geschichte des zwölfjährigen Wichard, Richard, wie er eigentlich heißt, ist das Produkt einer unglücklichen Liaison seiner Mutter mit einem Matrosen, der an der strengen Erziehung durch seine Mutter zugrunde geht. Gerade das Kindsein wird dem Jungen zur Hölle gemacht; er darf sich nicht bekleckern, nicht auf dem Teppich spielen, seine Katze ,,Birne“ wird ihm von der Mutter weggenommen. Und so flüchtet sich Wichard in eine Scheinwelt, wird nach außen hin zum schwer erziehbaren Kind, wird ,,verrückt“ – wie er den Zuschauern gleich nach dem ,Be treten des Busses versichert. Apropos Bus: Der ist ein Geschenk seiner Mutter zum 12. Geburtstag, um sich jeglicher Verantwortung endgültig zu entziehen.
Und so fährt Wichard, inzwischen erwachsen, mit seiner Begleiterin Karolien kreuz und quer durch die Welt. Der dritte Passagier ist seine Mutter, in Wichards Visionen genauso real wie für das Publikum. Nur Karolien ,,sieht“ sie nicht, wirkt als beruhigender Gegenpol – veranschaulicht durch die Raumaufteilung im Bus. Nach 50 Minuten ist der ,,Spuk“ vorbei, ist die Geschichte erzählt. die Kinder, sprich das Publikum, waren aufgefordert, den Bus zu verlassen.
Außergewöhnlich ist auch die Leistung des Ensembles: Dietmar Nigsch als Wichard überzeugt hautnah, läßt die Zuschauer an seiner Zerrissenheit teilnehmen. Katrin Bene als Reisebegleiterin (Sozialhelferin?) und Vermittlerin besticht durch ihre ruhige Ausstrahlung, während Christine Aichberger als strenge Mutter es versteht, Aggressionen in Wichard und dem Publikum zu erwecken.
Wenn aus Zusehern Akteure werden
Kronenzeitung OÖ, 26.10.1989
Daß „Theater zum Angreifen“ funktioniert, beweist das Vorarlberger „Projekttheater“ am Linzer Hauptplatz. Eine Horde von 25 Schulkindern kraxelte dort in einen umgebauten Postbus und ließ sich in die Handlung von Suzanne van Lohuizens „Der Junge im Bus“ verwickeln.
Der Bus wurde zur Bühne, und die kleinen Zuschauer begleiteten das Schauspielertrio Dietmar Nigsch, Katrin Bene und Christine Aichberger auf der bizarren Reise in die Vergangenheit des 32jährigen ,,Wichard“. Dessen geistige Entwicklung war bei seinem 12. Geburtstag steckengeblieben, als ihn seine Mutter verließ und ihm zum Abschied einen Bus schenkte. Mit dem tingelte er seither durch Europa.
Kinderfinger tauchen zum Teppichboden, um gemeinsam mit Wichard zu fühlen. wie weich er ist, und als die strenge Mutter als Vision erscheint, überträgt sich der Haß des ,,Jungen“ auf die Autoritätsperson auf die kleinen Besucher. Nicht nur einmal wird ein gestelltes Kinderbein rasch noch zurückgezogen, bevor die ,,Mutter“ darüberstolpert. Nicht Zuschauer sondern Akteure verlassen nach 50 Minuten den Bus.
Nigsch als zurückgebliebener Junge, Bene als seine verständnisvolle Begleiterin Karoline und Aichberger als frustrierte Mutter arbeiten Probleme der Alleinerziehung, Autorität und des Alleingelassen-Seins meisterhaft – und keineswegs nur für Kinder interessant – auf.
Ein Bus wird zur Szene
Ldiko Röd
Neue Tiroler Zeitung, 11.10.1989
Theater einmal ganz anders: Wem die althergebrachten Schauplätze von Theaterdarbietungen vielleicht allmählich etwas langweilig geworden sind, den wird ,,Der Junge im Bus“ von Suzanne von Lohuizen sicher schon wegen der Originalität des Zuschauerraums begeistern: dieser und die Bühne sind nämlich ident, die Aufführung findet auch in der Realität in einem Bus statt. Der Zuschauer nimmt also sozusagen an dem Stück teil, er wird in den Handlungsablauf integriert.
Die Theater- bzw. Busbesucher werden vor Spielbeginn gebeten, Matrosenjacken anzuziehen, sie sollen als Gäste des ,,Jungen im Bus“ fungieren. Dieser ,,Junge“ namens Wichard, er wird dargestellt von Dietmar Nigsch, der dieses Projekttheaterstück auch initiiert hat – ist zwar schon ein Erwachsener, er sieht sich aber selbst immer noch als Kind. Ein Kind, das sein ganzes Leben nicht von seiner Mutter akzeptiert wurde, immer zurückgewiesen und schließlich mit zwölf Jahren in einen Bus abgeschoben wurde, wo es seit zwanzig Jahren, nur von dem Mädchen Karolien (Katrin Bene) betreut, lebt. Die Erinnerung an seine Mutter (Christine Aichberger) verfolgt ihn aber. Sie ist die meiste Zeit anwesend, um ihn zu rügen und bestrafen. Auf äußerst berührende Weise wird das fehlgeschlagene Mutter-Kind-Verhältnis dargestellt, das Zerbrechen eines Menschen an der Lieblosigkeit der Umwelt, ein Thema, das ja gerade in der heutigen Zeit nicht oft genug behandelt werden kann.
Das von Walter Hiller inszenierte Stück wird von den Schauspielern lebendig gespielt, die Tragik der Situation wird locker, aber gerade deshalb umso berührender, dargestellt.,, Der Junge im Bus“ ist ein Stück, das Erwachsenen wie Kindern in gleicher Weise empfohlen werden kann.
Bettelreise um Mutterliebe
irju
OÖ Nachrichten, 28.10.1989
,,Ich bin verrückt“ – erzählt der igelhaarige Wichard (überzeugend Dietmar Nigsch), der eigentlich Richard heißt, den Kindern, die auf Einladung vom „Theater. Phoenix“ zu ,,Der Junge im Bus“ von Susanne Lohuizen in den Theaterbus am Linzer Hauptplatz gekommen sind – ,,total verrückt!“
Der Junge turnt an den Haltestangen quer durch den blitzblauen Bus, daß das vor der Vorführung stilgerecht in Matrosengewänder eingekleidete junge Publikum vor Vergnügen quietscht.
Doch jäh wird diese Stimmung erstickt: Ich habe versucht, meine Mutter umzubringen, als ich zwölf Jahre alt war! Da kommt dann der Schock durch, der durch das Kratzen am Mutter-Tabu entsteht. In der packenden Inszenierung (Walter Hiller) mit dem Projekttheater wird beinhart an diese Thematik herangegangen. Kein Klischee wird ausgelassen, weil es leider nur allzu stimmig ist: Sei es die überstrenge alleinerziehende Mutter, die den Frust einer gescheiterten Beziehung an Wichard auslebt. Sei es Wichard selbst, der sich in seinen Bus (ein Symbol für geistige Nischen) zurückzieht und erst mit zweiunddreißig einen minimalen Realitätsbezug herstellen kann.
Dem Ensemble gelingt die schwierige Aufgabe, diese Thematik kindgerecht (ab 10) aufzubereiten, die Kinder mit hautnahen Aktionen bei der Stange zu halten und mitzunehmen auf eine herzzerreißende Bettelreise um Mutterliebe.
Gefangen im eigenen Psycho-Autobus
Tax
Die Presse, 06.11.1989
Vor dem Theater im Künstlerhaus steht ein weißer Autobus. Und in dem Bus versucht ein Dreißigjähriger, der seit zwanzig Jahren in diesem Vehikel in der Welt herumreist, sich aber von ihr völlig isoliert hat, den Kindern im Publikum, die passenderweise vor Beginn der Vorstellung mit Matrosenanzügen ausgerüstet wurden, seine Kindheitsbewältigung nahezubringen.
Von der verständnislosen Mutter, von ihrer Zurückweisung, Lieblosigkeit erzählt er; jetzt sucht er Halt bei seiner Freundin Karolien. Er hat gelernt, sich in „Verrücktheit“ zu flüchten, deutlich unfähig, aus dem Labyrint seiner quälenden Vorstellungen herauzufinden.
Die Enge und Intimität in dem Bus, der als Symbol für die Gedankenwelt des „Jungen“ steht, machen die erwachsenen Zuschauer betroffen, die Kinder freilich finden Gefallen an dem traurigen Stück. Die gelungene Darstellung des sensiblen Jungen (Dietmar Nigsch), der so viele Gesichter hat, und die geglückte Inszenierung (Walter Hiller) eines schwierigen Stückes, lassen den Besuch wirklich lohnend erscheinen.
Für Menschen ab zehn: Der Junge im Bus
G. Kofler
Der Standard, 06.11.1989
Bevor das Publikum vom Hauptdarsteller in den Spielort vor dem Theater im Künsterhaus eingeladen wird, erhält es im Foyer Matrosenjacken. Die Einstimmung in eine Reisephantasie beginnt: Mit ihrem Theaterbus ist die Gruppe Projekttheater auf ihrer Österreich – Tournee nun in Wien eingetroffen. Gezeigt wird mit Suzanne van Lohuizens „Der Junge im Bus“ die Geschichte von Wichard, der seit seinem 12. Geburtstag in einem Bus lebt.
Und ein Gedankenkarussell um seine traumatischen Erlebnisse mit der Mutter: Weil er sich immer Wichard statt Richard nennt, weil er Schmutz ins Haus bringt, weil er nach seinem Vater, dem Matrosen, dem er nach Meinung der Mutter ähnlich sieht, fragt, weil er seine Katze Birne zu sich ins Bett nimmt – kleine Anlässe, schreckliche Folgen. Als man ihm die Katze nimmt, dreht Wichard durch, erklärt sich für verrückt. Deshalb bekommt er von seiner Mutter, die einen gewissen Onkel Karl heiraten will, zum Abschied, am 12. Geburtstag den Bus geschenkt. Karolien besucht ihn dort.
Seitdem sind drei Jahre vergangen, aber Wichard sieht immer noch seine Mutter, die aber nur in seinem Kopf ist, wie Karolien ihm sagt. Zuletzt dann sagt er mühelos Richard.
Walter Hiller läßt in seiner Inszenierung sofort die Situation wirken, und das kostümierte Publikum ist mittendrin in Wichards Gespensterparty mit Muttererscheinung. Dietmar Nigsch spielt den Jungen in vitalen Akzenten des Protests, sein zu Beginn starr eingesetzter Blick wird immer variationsreicher, ja manchmal schelmisch. Katrin Bene spricht als Karolien zumeist sanfte Töne im Hintergrund, die die Erinnerungen nicht auswuchern lassen sollen, während Christine Aichberger als Mutter die neurotischen Bruchstellen der Beziehung zum Kind zeigt: Kein Stück der leichten Phantasie ,aber viel Sensibilität.
Betroffenheit, die unter die Haut geht
H.Hronek
Vorarlberger Nachrichten, 02.09.1989
Erwachsene zeigen sich während des Spiels immer wieder betroffen und sehen beschämt weg, Kinder reagieren scheinbar emotionslos. Applaus will am Schluß keiner so recht aufkommen, eher hört man ein tiefes Durchseufzen, das als Bestätigung für den Realitätsbezug des Stücks und die gelungene Inszenierung gilt. ,,Der Juge im Bus“ mit dem St. Gerolder Projekttheater hatte gestern abend auf dem Parkplatz in St.GeroId seine vielversprechende Österreich-Premiere.
In Rückblenden erlebt der Junge ,,Richard“ sein Aufwachsen. Er darf sich beim Essen nicht ,,beklecksen“, weil er sonst ein dreckiger Junge ist. Er soll nicht nach seinem Vater fragen, weil Vater ein Säufer war und Mutter ihn aus ihrem Gedächtnis verdrängt haben will. ,,Birne“, seine Katze, zu der der Junge eine emotionale Bindung aufgebaut hat, muß verschwinden. Der Teppichboden des Wohnzimmers darf keinesfalls mit Straßenschuhen betreten werden. Spielkameraden sind ausgeschlossen. Plötzlich ist ,,Onkel Karl“ der neue Vater. Die Mutter-Sohn-Beziehung wird gänzlich abgebrochen. Mit 12 Jahren bekommt der Junge einen Bus, als Trost!
Mit dem Mythos von der ,,glücklichen“ Kindheit wird in dem Stück der Holländerin Suzanne Lohuizen aufgeräumt. Probleme und Ängste, mit denen Kinder täglich auf ihrem Weg zum Erwachsenwerden konfrontiert werden, werden schonungslos aufgezeigt. Immer mehr zutage tretende Verhaltensstörungen bei Kindern erhalten dadurch Realitätsbezug.
Wenn Dietmar Nigsch als Junge im Bus Kindern, die er zu seinem Geburtstag eingeladen und denen er ein uniformes Matrosenkleidchen angezogen hat, seine Geschichte Revue passieren läßt, spürt man als Zuseher zunehmend Beklemmung. Das enge Aneinandersitzen auf den harten Holzbänken im zum Theaterschauplatz umfunktionierten Postbus, die fast peinlich nahe ,,Tuchfühlung“ mit den Schauspielern, die drückende Atmosphäre, die stickige Luft, das Gefühl, eingeschlossen zu sein: alles trägt dazu bei, daß einem die Betroffenheit unter die Haut geht. Scheinbare Befreiung tritt erst ein, wenn sich die Türen des Postbusses nach 50 Minuten ,,Martyrium“ wieder öffnen.
Regisseur Walter Hiller gesteht ein: ,,Als ich das Stück das erste Mal gelesen hatte, mußte ich spazieren gehen!“ Wie sehr er sich mit der Gesamtproblematik auseinandergesetzt hat, zeigt seine gelungene Inszenierung. Katrin Bene als ,,Karolin“‚ die Richard im Bus begleitet, und Christine Aichberger als Mutter, die Richard in seinen Traumvisionen immer wieder begegnet, bilden mit Dietmar Nigsch ein geschlossenes Ensemble mit überzeugender Wirkung.