Sokrates Kassandra – den Mächtigen im Weg
von Walter Hiller und Silvia Bra
Sokrates gibt nicht auf.
Sokrates hat heute noch einmal die Möglichkeit sich zu verteidigen. Doch Sokrates wird wahrscheinlich nicht zu retten sein, munkelt man schon vor dem Prozess. Allzu viele fühlen sich ihm geistig unterlegen, flüstern einige. Und solche Menschen versuchen immer, sich zu rächen, hört man. Mit seiner ewigen Infragestellung der Überzeugung anderer ist er dem Staat nicht dienlich. Sokrates ist sich keiner Schuld bewusst und sieht dem Urteil gelassen entgegen. Doch nach einem Erdbeben schlägt man gerne auf die Seismographen ein… (Walter Hiller)
Kassandra aber ist arbeitslos geworden.
Die Nachfrage nach Unheilbotschaften sinkt seit geraumer Zeit, und die Resistenz gegen prophetische Warnungen ist gestiegen. Zugleich hat sich in der kassandrischen Branche ein ganzer Berufsstand fest etabliert, mit Rentenanspruch und Weihnachtsgratifikation. Der Journalismus in all seinen Ausprägungen, ob als Nachrichtensendung, Reportage oder Faktenrecherche, hat sich dem Rufer in der Wüste beigestellt und übertönt seinen Klagegesang durch die Kakophonie der Medien. (Ulrich Reiner,“Kassandra arbeitslos“, Die Zeit 1993)
Premiere: 03. Juni 1998 im Schwurgerichtssaal des Landesgerichts Feldkirch, Uraufführung
Regie: Walter Hiller (Sokrates) Silvia Bra (Kassandra)
Es spielen: Maria Hofstätter, Dietmar Nigsch
Ausstattung: Renate Schuler
Pressestimmen
Splitternackt im Gerichtssaal
Projekttheater Vorarlberg klagt an – Theater im Kabarett- und Gesprächston
Christa Dietrich
Vorarlberger Nachrichten, 05.06.1998
„Sokrates – Kassandra“ heißt die neue Produktion des Projekttheaters Vorarlberg. Zwei historische Figuren stehen im Licht der Nachwelt – und sozusagen splitternackt im Feldkircher Schwurgerichtssaal. Eine Produktion, die ihre Tücken hat, sich aber bei aller Aktualität gegen momentane Trends richtet.
Theaterstücke dort zu realisieren, wo ein Bezug zur Thematik herstellbar ist, ist logischerweise gerade in der freien Szene eine gängige Methode. Nicht immer sind diese Räumlichkeiten dann so bespielbar, daß das Publikum auch einen entsprechenden Nutzen hat, und nicht selten agieren die Schauspieler in den Einkaufspassagen, Bahnhofswartehallen oder unter freiem Himmel dann doch nicht anders als auf den herkömmlichen Podien. Das Projekttheater suchte die Stätten der Macht oder Rechtsprechung und war schließlich im Schwurgerichtssaal willkommen, wo das Sokrates-Gerichtsurteil ohnehin seinen idealen (nur bei oberflächlicher Betrachtung plakativ wirkenden) Rahmen erhielt und die Kassandra-Geschichte – so wie die Schauspielerin die Bänke der Rechtssprecher in Besitz nimmt – zur subtilen Anklage wird. Theatermacher wissen um die Wirkung von Musik, Licht und Farben. Der enorme Publikumserfolg von Heiner Müllers grandioser „Arturo Ui“-Inszenierung am Berliner Ensemble ist vermutlich auch auf einen, die Produktion umrahmenden, Pop-Evergreen zurückzuführen, der voll in den Bauch fährt. Frank Castorf heizt dem Publikum schon im Foyer der Volksbühne ein, dasselbe macht Hans Gratzer am Wiener Schauspielhaus, und das Linzer Theater Phoenix wußte jüngst Schillers „Räuber“ zur – allerdings bestens durchdachten – Party umzufunktionieren.
Diskussionston
Sitzt man dann bar jeglicher Theatereffekte im gleißenden Licht des Gerichtssaals, wähnt man sich gern in der Volkshochschule. Doch Belehrung ist nicht die Absicht von Regisseur Walter Hiller, Schauspieler Dietmar Nigsch verharrt im Erzähl- und Diskussionston. Sein Tugendappell (nach Texten von Platon und anderen Denkern bis zur Gegenwart) – gehalten vor einer gewinnsüchtigen Gesellschaft – verlangt äußerste Konzentration. Nichts darf stören, auch die Abstimmungsbohnen in den Publikumsreihen waren somit überflüssig. Das Schicksal des vernunftorientierten Sokrates ist besiegelt. Nigsch vermittelt es gelassen . . .
Pointiert
Weiße Kostüme hat Renate Schuler den Schauspielern geschneidert, damit sind sie nackt, bieten Projektionsflächen, nur Maria Hofstätter trägt Kothurne und gelegentlich – wenn sie in die Rolle antiker Mimen schlüpft – eine Maske. Die Rolle wechseln darf sie oft, Regisseurin Silvia Bra bietet eine mitunter kabaretthafte Auseinandersetzung mit der Figur der Warnerin und zielt dabei vor allem auf ein Dilemma der modernen Gesellschaft, in der der Wahrheitsgehalt der vielen Informationen für den einzelnen nicht mehr überprüfbar ist. Im szenenreichen, pointierten Spiel mit Mythos und Vorurteilen gegenüber Frauen wird die Vielschichtigkeit entfacht und auf jeglichen Fingerzeig verzichtet.
Ein gelegentlicher Leerlauf ist nicht auf die äußerst wandlungsfähige Schauspielerin zurückzuführen, sondern darauf, daß sich einige Erkenntnisse wiederholen bzw. nur in Variationen „auftreten“. Viel Applaus im Gerichtssaal.
Sokrates und Kassandra klagen an
Schauspiel über Recht und Gerechtigkeit im Schwurgerichtssaal
Eva Jacob
VN-Heimat, 18.06.1998
Das Projekttheater Vorarlberg rollte im Schwurgerichtssaal des Landesgerichts Feldkirch zwei Prozesse auf, die 2500 Jahre zurückliegen, den des Sokrates und den der Kassandra. Obwohl Solon im Land der Griechen die ersten Gesetze des Abendlandes gemacht hatte, ließ schon damals (wie heute noch) ihre Auslegung den Mächtigen entscheidenden Spielraum.
Aber nicht nur die Mächtigen sind es, die die Macht haben, weit gefährlicher sind Dummheit und Fanatismus. Luciano de Crescenzo schreibt in der Geschichte der griechischen Philosophie: “Wie soll man Sokrates nicht mögen, er hatte ein gutes Herz, war hartnäckig, intelligent, ironisch und gleichzeitig unbeugsam.” Und genau das sind die Eigenschaften, die am allgemeinen nicht toleriert werden. So wurde er gezwungen, den Schierlingsbecher zu trinken. Und auch Dietmar Nigsch in der Rolle des Philosophen tat das mit Gelassenheit: Es ist weit schwerer, der Schlechtigkeit zu entgehen als dem Tod … zuerkennen wollt ihr mir den Tod, weil ihr meine Lebensweise nicht ertragen könnt.” Regisseur Walter Hiller verließ sich nur auf den gewichtigen Sinn des Textes, auf die Würde des Raums. Die Rechnung ist aufgegangen.
Ganz andere Register zogen Maria Hofstätter und ihre Regisseurin Silvia Bra. Sie verteilten den Kassandra-Mythos über die Jahrhunderte bis in die Jetztzeit – und nahmen Vorurteil und Dummheit ins Visier. Maria Hofstätter schlüpfte in die Rollen vieler Dummer und Vorurteiler, die alles “ganz genau wissen” und ihrer Sache ganz, ganz sicher sind. Wie sollten sie auch nicht verstehen, daß Apollon ihr die verliehene Sehergabe wieder entzog, als sie sich ihm sexuell verweigerte. Hatte er nicht das Recht darauf? Nicht Humboldt, nicht Francis Bacon und auch Nietzsche haben Kassandras Einsamkeit gesehen, haben nur geurteilt und auch alles gewußt. Hofstätter und Bra haben den ironischen Aspekt besonders beleuchtet. Und auch das funktionierte.
Die Berechtigung ist auch dieser Sicht nicht abzusprechen. Man erinnere sich nur an Skakespeares Satz: “Die ganze Welt ist Bühne.” Und somit auch ein Schwurgerichtssaal.
Nigsch überzeugt barfuß und barsch
,,Zu wissen, daß ich nichts weiß“
Projekttheater Vorarlberg mit ,,Sokrates – den Mächtigen im Weg“ im Scharfrichterhaus
Sigrid Gamisch
Passauer Neue Presse, 03.02.1999
Barfuß auf dem kalten Steinboden stehend, in weißer Leinenhose und Kittel fast ärmlich gekleidet, verteidigte er sich in ironischem und herausforderndem Ton. Die letzte Rede des Sokrates vor dem athenischen Gericht hatte dem Urvater der Philosophie dennoch den Tod durch den Giftbecher eingebracht. Dietmar Nigsch, der ihn am Samstag so überzeugend darstellte, brachte die Rede dagegen den Applaus im Scharfrichter-Haus ein. ,,Sokrates – den Mächtigen im Weg“ hieß das Stück des österreichischen Projekttheaters Vorarlberg, in dem die Verteidigungsrede des Sokrates, nach den Originaltexten seines Schülers Platon, zum Besten gegeben wurde. 399 v.Chr. wurde der griechische Philosoph wegen seiner angeblich gottlosen, jugendverführenden Dialoge angeklagt, die er auf dem Marktplatz von Athen abhielt. Sein eigentliches Vergehen aber war die Art seiner Belehrung: Das Frage-Spiel, mit dem er die Menschen, auch die Mächtigsten, in die Enge trieb, bis sie erschöpft ihr Nichtwissen eingestehen mußten. Vielen wurde er dadurch ein Dorn im Auge.
,,Sokrates muß man sich wie ein kleines, nerviges Kind vorstellen, das so lange nachfragt“; bis man blamiert keine Antwort mehr weiß“, erklärt Nigsch. Damit habe er seine These ,,Zu wissen, daß ich nichts weiß“ bestätigen wollen. Und da er auch nicht um den Tod wußte, ob er nicht vielleicht etwas Gutes sei, trat er seinen Richtern in sarkastischer Überlegenheit gegenüber und trank den Schierlingsbecher mit reinstem Gewissen.
,,Sokrates hatte den Tod nicht verdient. Aber er hat ihn ein wenig gesucht“, schreibt Frederic Pages in seinem Werk ,,Frühstück bei Sokrates“. Dies konnte den Zuschauern im Scharfrichter-Haus kaum deutlicher vermittelt werden als durch die Darstellung Nigschs. Die verschachtelten, ausgeschmückten Sätze waren sicher gewöhnungsbedürftig. Doch die Lehre des Sokrates, das Wissen des Nichtwissens, provoziert durch forderndes, teils barsches Auftreten, wurde wohl selten innerhalb einer Stunde derart verständlich gemacht. ,,Faszinierend ist auch, daß Sokrates nach 2000 Jahren immer noch aktuell ist“, so Nigsch. Denn: Der Mensch ,,soll sich nicht so sehr um den Leib und um das Vermögen sorgen wie um die Seele“.
Scheuen Politiker das Theater?
Peter Turrinis „Die Wirtin“ im Theaterzelt in St. Gerold
Christa Dietrich
Vorarlberger Nachrichten, 06.06.1998
An die ersten Aufträge im Journalistenleben erinnert man sich vermutlich zeitlebens. Der Frage, ob Politiker bzw. solche Personen, die über Subventionsvergaben zu befinden haben, selbst ins Theater gehen, also sich vor Ort ein Bild machen, sollte ich nachgehen. Die Gründe der grassierenden Theaterabstinenz waren banal originell, reichten von ,,zu wenig Zeit“, bis ,,meine Leibesfülle bringe ich nur schwer in einen Theatersessel“. Eine solche Umfrage würde heutzutage vermutlich zu einem ähnlichen Ergebnis führen, abgesehen vielleicht von der ,,Leibesfülle“, aber der Name des so Antwortenden bleibt sowieso ein Geheimnis.
Daß das Projekttheater am vergangenen Mittwoch ankündigte, mit der Produktion ,,Sokrates – Kassandra“ den ,,Mächtigen im Weg“ zu sein, hat zumindest dazu geführt, daß einige Politiker und hohe Beamte ihre Abwesenheit bei der Premiere sogar schriftlich entschuldigten. Wieder andere sagten ihr Kommen zu einer der weiteren Aufführungen zu.
Ursprünglich sollte das Theaterstück ja nicht nur im Schwurgerichtssaal in Feldkirch, sondern angesichts der Thematik auch im Landhaus aufgeführt werden. Dort, im Landtagssitzungssaal wollte man die Schauspieler allerdings nicht haben. Auch das Bregenzer Rathaus sollte den Theatermachern verschlossen bleiben. Ins Theater zu gehen, ist Entscheidungsträgern also zu aufwendig, das Theater ins Haus geliefert zu bekommen, zu unbequem. Was wünschen Sie dann? Etwa in Ruhe gelassen zu werden?