Wer hat meinen kleinen Jungen gesehen?
von Suzanne van Lohuizen
Ein „Beckett für Kinder”: Die Figuren Kamiel und Lunter jammern, streiten und sorgen sich über den Verbleib ihres kleinen Jungen, von dem beide so viel erwarten. Aber gibt es diesen kleinen Jungen überhaupt?
Premiere: November 1994 im Saumarkttheater Feldkirch
Gastspiele 1994/95
Regie: Walter Hiller
Es spielen: Dietmar Nigsch, Alois Frank
Ausstattung: Renate Schuler
Pressestimmen
(Un)artige Clowns
Projekttheater spielt Lohuizen-Stück am Saumarkt
Christa Dietrich
Vorarlberger Nachrichten, 15.11.1994
Wer die Papa- Mama-Kind-Masche, die in unseren Breitengraden nach wie vor die Kinderliteratur (für Bühne und Buch) beherrscht, langsam satt hat, der wird von Suzanne Lohuizen gut bedient. Gerade im flämischen Sprachraum sieht man die Dinge längst nicht mehr so eng. Zudem ist den Kindertheatermachern das Absurde absolut nicht fremd. Man konkurriert nicht mit der angestaubten Märchenszene (besonders vor Weihnachten in deutschsprachigen Theatern immer wieder ganz groß da), sondern bereichert sie.
,,Wer hat meinen kleinen Jungen gesehen?“ ist ein Stück (am sperrigsten ist der Titel), das Klischees aufbricht: Alois Frank (Lunter) und Dietmar Nigsch (Kamiel) vom Projekttheater Vorarlberg (Regie: Walter Hiller, Ausstattung: Renate Schuler und Herbert Steger) haben sich das auch zum Prinzip gemacht. Zwei Wesen haben ein Kind, lieben es, vernachlässigen es, sind stolz darauf (,,ein Wunderkind!“), haben Angst vor ihm, suchen es, …. nein, erwarten es eigentlich erst. Nigsch und Frank, die zwei artig unartigen Kuschelwesen, tragen Clownfracks (einmal mit Zopflunte) und sind als Merkmal unseres eingeteilten Lebens einmal mit einem Telefon und einmal mit einem Wecker verwachsen. Lunters Kopf steckt in einem Käfig, zu dem der Schlüssel fehlt. Das ist das erste Malheur, aus dem sich mehrere entwickeln…
Kuddelmuddel
Was die beiden (Nigsch gibt sich clowniger, Frank meist trotzig-resoluter) schließlich ausspielen, ist ein leicht verfremdetes Kuddelmuddel aus dem zeitgemäßen Familienalltag, sind Szenen aus dem Eltern-Kind-Bereich. Daß die Eltern dabei meist zu den Zielscheiben der Anklage werden, versteht sich von selbst, sind sie es doch, die sich in Korsetts zwängen und ihren Kindern beispielsweise das vielfach beklagte dumm-unkritische Konsumverhalten vorleben. Doch der drohende Zeigefinger ist nicht Lohuizens Sache, hier geht es auch um die Liebe, und dabei wird das Stück, das auch (vor allem kopflastigen) Erwachsenen manch harte Nuß zu knacken aufgibt, besonders schön. ,,Kinder picken sich das heraus, was für sie gerade relevant ist“, sagt mir Nigsch anschließend im Gespräch.
Warten auf den ,,kleinen Jungen"
Projekttheater Vorarlberg bringt problematisches Kinderstück
Edgar Schmidt
VN-Heimat, 24.11.1994
,,Wer hat meinen kleinen Jungen gesehen?“ heißt die jüngste Produktion des Projekttheaters Vorarlberg, das mit seinen ungewöhnlichen und originellen Kreationen nicht zum ersten Mal für Diskussionen sorgt. Das ,,Stück für Menschen ab 6″ der Holländerin Suzanne van Lohuizen (deutsch von George Podt und Dagmar Schmidt) wurde fünfmal erfolgreich im Theater am Saumarkt aufgeführt, ist aber bis 18. Dezember für Gastspiele in ganz Vorarlberg verfügbar.
Alois Frank und der bestens bekannte Vorarlberger Schauspieler Dietmar Nigsch sind die beiden Protagonisten des Einstundenstücks, Regie führte Walter Hiller, die bunten Kostüme schuf Renate Schuler.
Absurdes Kindertheater
Die Story des zu suchenden „kleinen Jungen“ macht zweifellos Anleihen beim absurden Theater bis Becketts ,,Godot“ und ist deshalb für Kinder teilweise vergnüglich-komisch, aber auch problematisch, weil ein kleines Wesen von/ab sechs Jahren doch vornehmlich einer linearen Kinderlogik folgt und Doppelbödigkeiten nicht unbedingt erahnen kann. Da suchen die beiden clownesken Gestalten Lunter (Alois Frank) und Kamiel (Dietmar Nigsch) nervös, hastig, gereizt, aber auch besorgt ihren ,,kleinen Jungen“, den sie an den unmöglichsten Orten vermuten, den sie im Geist liebkosen, dann wieder wie ein Monstrum schildern, das beginnen wird, ihre Körper aufzufressen – sie suchen ,,ihr Kind“, das unter anderem auch bellen kann oder verletzt zu sein scheint, das vor allem aber den Schlüssel zu jenem Käfig verschwinden ließ, den der insgesamt grantelnde Lunter/Alois Frank über den Kopf gestülpt trägt. Ein Telefon (Kamiel) und ein Wecker (Lunter) bringen eine eigenartige Zeitkomponente in das Stück der beiden männlichen, aber eigentlich geschlechtsneutralen Clowns (Lunter trägt einen Riesenzopf).
Die Schlußpointe: Kamiel (Dietmar Nigsch mit leiser Mütterlichkeit) fühlt den Jungen in seinem Bauch und wird ihn bald gebären; der Schlüssel wird gefunden, die offene Käfigtür schafft die Möglichkeit für einen innigen Kuß zwischen Lunter und Kamiel… Das Lohuizen-Stück projiziert in das unsichtbare, ja anscheinend noch nicht einmal geborene Wesen Kind in bisweilen bizarren Szenen allgemein-menschliche Verhaltensweisen wie Eltern- und Kindes-liebe, Egoismus, Ängste, Zorn, Mißverständnisse und vor allem die Suche und Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit. Ein Diskussionsstück für Eltern und (reifere!) Kinder.